„Truth will set you free. But first it will piss you off.“
Gloria Steinem
Bewege ich mich vor oder zurück?
Ich habe mal eine Frau sagen hören, dass der emotionalen/mentalen/spirituellen Heilung eine Geburtsenergie innewohnt. Man stellt fest, das es im Uterus zu eng geworden ist und will raus. Dahinter wird es erstmal noch enger.
Genauso kann man es zusammenfassen. Die grosse ersehnte Freiheit und Weite, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten kommt erst nach dem Geburtsweg.
Deshalb bleiben viele Menschen vielleicht etwas länger im Geburtskanal stecken, als eigentlich nötig: wenn man das „Neue“ noch nicht sehen und erleben kann, hat man die Tendenz, zu versuchen, wieder in das „Alte“ zurückzufinden. Das ist ungefähr genauso absurd, wie der Versuch, wieder in den Uterus zurückzukriechen. Oder Zahnpasta in die Tube zurückzubekommen.
Hat sich einmal im Inneren die Entscheidung getroffen, den alten Schmerzen, Eingeschränktheiten und Dummheiten zu entwachsen, beginnt der Prozess der Bewusstwerdung.
Das bedeutet, dass ich beginne meinen wirklichen Gedanken und Gefühlen auf die Spur zu kommen. So beginnt das Unbewusste, seine Inhalte preiszugeben. All die Verletzungen, die Verdrehtheiten im Denken, der selbstverletzende Wiederholungszwang alter Traumata und die massive Angst, die unser Verhalten bestimmt und unser Identitätsgefühl generiert; diese Inhalte müssen an die Oberfläche, nach und nach. Es kann nur heilen, was man sieht.
Wenn man ein bestimmtes Maß an Wiederholungen, Schmerz und Verlust erlebt hat, kommt man irgendwann an den Punkt, an dem man beginnt nach den wirklichen Ursachen zu suchen. Suchte man sie vorher im Aussen und begnügte sich mit der Feststellung, dass im Aussen etwas Schuld an meiner Misere sein muss, so beginnt man nun zu schauen, ob man selbst vielleicht etwas damit zu tun haben könnte.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich genau an dieser Stelle merkte, dass ich mich selbst eigentlich nicht kannte. Und auch nicht wusste, wie ich mich kennenlernen kann. Mein Blick versuchte nach innen zu gehen, wurde aber von Gedankengebilden und Labyrinthen mitgerissen; von einem inneren Beobachten war ich zunächst weit entfernt.
Wenn man jedoch muss und will, weil es so nicht weitergeht, wie es vorher war, dann geht es genau hier auch weiter: man beginnt früher oder später sich selbst im Denken, Fühlen und Handeln wahrzunehmen.
Dann passieren im Wesentlichen 3 Dinge, die einem erstmal den Eindruck vermitteln, dass man nun schlechter dran ist:
1. Man sieht, wie man wirklich denkt und fühlt; man sieht, wieviel Angst, wieviel Verurteilen und Selbstverurteilen, wieviel Zweifel, Anklagen und Unsicherheit das Leben und Erleben bestimmen. Das wird erstmal stark dazu beitragen, dass sich das wirkliche Selbstbild zeigt.
Auf meinem YouTube Kanal findest du viele weiterführende Videos zu den Themen Toxische Beziehung, Geliebte sein und Hochsensibilität.
2. Unbewusstheit will nicht gesehen werden; unsere unbewussten Gefilde können nur die psychische Steuerung behalten, wenn sie nicht durchleuchtet werden. Halte ich eine Lampe in mein Inneres, gibt es vom Unbewussten erstmal einen Shitstorm: Angst!
Jetzt kann ich mein wirkliches Denken kennenlernen: „ Was soll das Ganze hier jetzt bringen? Toll, und wo führt das ganze hin? Soll ich jetzt etwa auf alles verzichten? Nää, Meditation ist mir zu langweilig, da kann ich ja gar nicht still sitzen, was soll das überhaupt. Ich kümmere mich um mein Inneres, wenn ich mal irgendwann Zeit dafür habe. Wenn ich heile, werde ich bestimmt so anders sein, dass ich mich garnicht mehr mag. Ausserdem ist man dann bestimmt total vernünftig und hat keine Lust mehr Porsche zu fahren. Ich will aber einen haben. Wenn ich so weitermache, dann will ich bestimmt alles nicht mehr haben, was ich jetzt haben will und dann bin ich bestimmt ganz unglücklich. Ich bin dann bestimmt überhaupt nicht mehr eitel und verlottere. Bestimmt stehe ich dann auf Männer, die ich heute unattraktiv finde. Wenn ich so weitermache, dann werde ich bestimmt keinen Partner finden und als Katzenmutti mit 50 halbverwahrlosten Tieren am Rand vom Dorf leben. Ich werd ja auch nicht jünger und ausserdem, was soll mir das jetzt bringen; ich will ja den Mann/Job/Auto…undsoweiterundsofort.“
Solche oder ähnliche Dialogsequenzen im Verstand werden kommen. Sie sind aber nicht neu; das Geschwätz ist unbemerkt Tagesordnung. Es wird durch Bewusstwerdung hörbar.
Viele dieser Gedankengebilde bringen die Gefühle an die Oberfläche, die wir zwar verdrängt haben, die aber unbemerkt unser Tun gesteuert haben. Das führt dazu, dass man sich manchmal schlecht fühlt; deprimiert, ängstlich, traurig, zornig. Diese Emotionen und Inhalte können in der Unbewusstheit nicht ausheilen. Sie müssen gesehen, gefühlt und anerkannt werden.
3. Wenn man beginnt nach innen zu schauen und sich selbst besser wahrzunehmen, dann nimmt man auch früher oder später echte und gesunde Grenzen und Bedürfnisse wahr. Natürlich kollidiert das an einigen Stellen mit der äusseren Lebenssituation: Sie ist ja entstanden, als man sich noch nicht so gut selbst wahrgenommen hat; also in einer Grenzenlosigkeit. Nun, da man plötzlich genauer merkt, wo man anfängt und aufhört, kann es natürlich sein, dass man merkt, wie ätzend man den Chef findet, wie oft man sich in der Beziehung verbogen hat und wie sinnlos man manches findet, was man jeden Tag an der Arbeitsstelle tut.
Das ist der Moment, in dem viele Menschen das Gefühl haben, sie hätten an sich selbst vorbei gelebt. Hier prallen zwei Grössen aufeinander: man ahnt, dass man nicht mehr lange einfach so weiter machen kann und: man weiss nicht, wie es denn anders weitergehen kann und wohin überhaupt. Viele Menschen verzweifeln an dieser Stelle und denken, sie hätten sich verrannt und in echte Schwierigkeiten gebracht. Der Weg nach innen bringt ein paar gefühlte Kontrollverluste hervor. Gefühlt nur deshalb, weil es keine sind und, weil man in der alten Funktionsweise viel mehr Kontrollverluste produziert hat.
Das Leben selbst hilft aus dieser Bredouille heraus; die Lösungen, die neuen Chancen, die erfüllten Wünsche kommen von selbst. Und das ist niemand, der sich auf diesen Weg macht, gewohnt; dass Dinge leicht gehen, von selbst passieren (sie sind immer von selbst passiert).
Unsere Angst hat uns ein Gefühl von Kontrolle gegeben. Und das geben wir erstmal ungern her.
Angst heilt indem man sich ihr stellt. Und das bedeutet, dass man sie aushalten muss; am besten so bewusst wie es geht, sooft es geht. Sie wird kommen und gehen, bis sie genug gefühlt worden ist. Es gibt viele schöne Tage, manche unsichere und manche Tage an denen man leidet.
Es ist nie mehr, als man kann!
Übrig bleibt, wonach wir uns gesehnt haben. Aber das ist auch das, was wir erstmal am meisten fürchten: Liebe und ihre Schöpferkraft.
Wir durchleiden also alles, was uns vorher unsichtbar im Weg gestanden und uns von der Entfaltung unseres Potentials abgehalten hat. Deshalb scheint es einem auf diesem Weg manchmal schlechter zugehen, als vorher. Ich hoffe, es ist klargeworden, dass das temporär und nicht der Endzustand ist.
Denke an den Geburtsvorgang.
Foto und Beitragsbild:
Tanja Grundmann, Eifel